ⅪⅤ : Nimbus │ 1 · Zwei Wiegen, Lieder, Konspiranten
»... fast vierzehntausend Welten ... vierzehntausend ... über dreißig Billionen Leben ... ausgelöscht für das Wachstum einer Welt ... für eine Handvoll Staub ... ein Quantum an Erkenntnissen ... Wissen für das Scriptorium ... für den Erhalt der Göttlichkeit ... des Lichts ... der Lux ... Ist es das wert? Natürlich ist es das. Der Wert des Lichts steigt mit der Umfänglichkeit der Dunkelheit.«
Tán spürte, wie der Seraph seine Geschwindigkeit stark verringerte und seine Gedanken damit gleichermaßen ausgebremst wurden. Exekutive 8-1-4 war durchgeführt. Ein tiefer Atemzug. Seine Lider öffneten sich entspannt. In den weiten, schwarzen Pupillen spiegelte sich im Duett eine kleine, rote Flammenkugel. »Heimat«, flüsterten seine trockenen, schmalen Lippen der Blutfeuersonne zu.
»General? Sagten sie etwas?«, erkundigte sich der Erste Offizier.
Tán räuspere sich, rückte in seinem Kommandosessel wieder in eine aufrechte Position und richtete den Kragen seiner Uniform. »Ich sagte, wir sind zurück. Gleich sehen wir unsere Heimat wieder.« Seine Finger berührten einen der weißen Kristalle vor ihm. Noch mehr Segmente des kristallinen Metalls des Seraphs wurden durchsichtig. »Schaut selbst. Wir passieren gleich den dreizehnten Ring. Willkommen zurück auf Nimbus.«
Der rote Zwerg, der offiziell nur noch der gravitativen Stabilisierung diente, verschwand unbeachtet aus der Peripherie der Brückenbesatzung, die sich nun von ihren Stationen erhob, um dem Spektakel beizuwohnen, das Tán ihnen gönnte. Ehrfürchtiges Schweigen herrschte.
Noch für einige Minuten durchzog ein sternenleeres, schwarzes Band – Alt-Tartaros – in schummrig dunkelrotem Schein, das All vor ihnen.
Einer der Navigatoren flüsterte aus dem Schatten: »General? Stimmt es, dass auf dieser Seite noch immer eine Zahl an Dra'ák lebt? Flüchtige, die sich noch widersetzen?«
»Mein Guter, nicht geflüchtet, leben gelassen. Auch das Scriptorium hat begriffen, dass es nicht unerheblich für das kollektive Bewusstsein ist, dem Volk noch ein ultimatives Feindbild zu erhalten.« Der junge Mann nickte zustimmend. Doch Tán schmunzelte still über den wahren Grund: »Weil der innere Zirkel dieser nimmersatten Priester sich immer noch erhofft, so, eines Tages doch noch Zugang zum Dra'ák-Viadukt zu erlangen. Und sie nach Pandoras Erbe suchen ... die armen Spinner.« Er schloss leise die Faust seines goldenen Kampfhandschuhs. Dann wurde sein Blick wieder nach draußen gezogen.
An der oberen Kante besagter Außenwelt zeichnete sich eine scharfe, leuchtend weiße Sichel ab. Alle Pupillen verengten sich schlagartig, als das gleißende, weißblaue Licht der inneren Sonne dieses uralten Doppelsternsystems über dem Ring aufging – das Fegefeuer von Nimbus – das Innere des dreizehnten, größten Rings der künstlich erschaffenen Welten der altvorderen Lux. Ein gewaltiger Anblick. Ein erleuchtetes Band, das sich durch die Leere zog, soweit das Auge reichte. Eine geschlossene Perfektion; Sammlung der Juwelen aller bisher assimilierten Welten, der nun, mit erfolgreicher Rückkehr der Veritas, noch das ein oder andere Segment hinzugefügt werden konnte.
Jeder der zwölf inneren Ringe rotierte ebenfalls um die weiße Sonne als Zentrum. Scheinbar chaotisch zogen ihre Schattenstreifen in sich ändernden Winkeln über Nimbus und kündeten in ihrer jetzigen Anordnung jedem Lux von der erst kürzlich vergangenen Ringwende – einer Schattenwende, bei der sich durch das Aufeinanderfolgen mehrerer Ringschatten ganz Nimbus in wochenlanger Dunkelheit befindet.
Die Rituale und Feierlichkeiten hatte die Besatzung der Veritas durch den Verlust des sechsten Flügels des Seraphs knapp verpasst. Umso verständlicher war ihr Missmut nun, als ihr Kommandant sich bereits mit Überquerung des äußersten Ringes bereit machte, von Bord zu gehen.
Tán verließ den Kommandostand und legte seine Rüstung an. »Erster Offizier, Sie übernehmen die Brücke. Erst an der Weltenschmiede des Neunten die Ladung löschen, dann die Veritas zur Wiege der Seraphen auf den Zweiten.«
»Zu Befehl, mein General ... aber warum ... was ist mit dem Flügel-Vorfall?«
»Ich habe Wichtigeres zu tun. Sie waren doch ebenfalls Zeuge des Geschehens. Erstatten Sie dem Scriptor der Wiege ausführlichen Bericht. Ich stehe heute für Dienstliches nicht mehr zur Verfügung. Das können Sie ihm ausrichten. Unser Reisebegleiter und Kindermädchen, der ehrenwerte Priester O-Pérò-sama reicht mir erstmal für eine Weile.«
»Zu Befehl, General. Es war mir eine Ehre mit Ihnen ...«
»Jaja, lassen wir die hohlen Phrasen.« Tán legte die Hand an den Brustpanzer. Aus dessen Nackenschild floss das flüssige Aurelitan um sein Gesicht und komplettierte seine Rüstung mit den gleichermaßen mimischen wie auch undurchdringlich harten Gesichtszügen der Kampfmaske – dem Visor – der höchsten Lux-Krieger.
Ein glühend weißer Ring zog sich in Augenhöhe um den Kopf herum. Bevor der Offizier vom Licht des Fegefeuerfragments geblendet wurde, neigte er demütig das Haupt und schwieg. Der General legte ihm zur Verabschiedung die Hand auf den Scheitel. Dann verflüssigte sich erneut ein Teil seines Brustpanzers und formte zwei sichelscharfe Schwingen auf seinem Rücken, die sich schützend um den gepanzerten Körper legten. Der weiße Feuerring, der gleichermaßen Augenbinde wie Erleuchtung symbolisierte, weitete sich, wurde gleißend hell, schwebte kurz über dem Kopf des Generals, bevor er blitzschnell gen Boden schoss und Tán verschwunden war.
* * *
Ein hellweißer Blitz erleuchte kurz die kleine Lichtung am Ufer des zugefrorenen Waldsees. Dann verschlang die stille Dunkelheit des letzten Tages der Schattenwende die Natur wieder. Nur die zerklüftete Felswand und ein paar der dicken Stämme der mächtigen Kiefern nahe am Seeufer wurden in das diffuse, dunkelblaue Licht einiger umherschwebender Insekten getaucht. Die Fußspuren, die mitten im tiefen Neuschnee begannen, führten die Böschung hinab und endeten erst einige Schritte auf der dicken Eisdecke.
»Vierzehntausend ... Billionen. Das Recht, Leben zu entfernen ...«
Der Visor war erloschen; die goldenen Schwingen wieder verschwunden; auch der Glanz der Rüstung schien jetzt ein wenig matter.
Tán ließ die Maske vom Gesicht gleiten und starrte weit hinaus aufs Eis. Tief sog er den Geruch von Nadelbäumen und frischem Schnee durch die Nase; füllte seine Lungen mit Ruhe und Reinheit. Er schloss die Augen und atmete die inneren Stimmen davon, bis seine Sinne wieder klar waren. Bis er wieder etwas hören; spüren konnte. Eine Resonanz. Er ging auf die Knie und legte ehrfürchtig die Handflächen auf das Eis. Die Resonanz auf sein tiefstes Inneres. – Das Flüstern, Rumoren, Seufzen. Warnendes Hämmern und Klopfen. Peitschen und Schlagen. Ein brodelndes Knurren. Mahnend, fragend, wehklagend, beruhigend. Ein Fließen, Schweben, Dahintreiben, ihn in die tiefe ziehend. Das lockende Streicheln, das Raunen und Hauchen. Auch das durchmischende Wabern und trauriges Weinen. Das Geräusch von Träumen – im Gesang des Eises – in sich selbst.
Ein scharfer Windstoß wehte ihm die langen, schwarzen Haare aus dem Gesicht – und die Melancholie aus den Gedanken. Er öffnete die Augen wieder und stand auf. Er hob den Blick hoch über die raue Felswand, hin zu den erleuchteten Fenstern des Palastes oben auf dem Felsmassiv.
»Zwei ... Das Recht, Leben hinzuzufügen ...«
In seinem eisblauen Blick erstarrte die Entschlossenheit wieder, die ihm die Gedanken an das, was er dort oben finden würde, kurz zum Tauen gebracht hatten.
Dann verschwand er im verborgenen Zugang – wahlweise Fluchtweg – der kleinen Schreingrotte unterhalb des Anwesens, zwischen den spitzen Felsnadeln, die, wie ein halb-dra'ákisches Grinsen, aus dem dunklen See emporragten.
* * *
Das Gewebe des kleinen Orientteppichs in der hintersten Ecke des Arbeitszimmers verfestigte sich wieder. Tán ließ sich nur kurz auf der Lehne eines Sessels nieder, um sich der schweren Stiefel und Beinpanzer zu entledigen. Weiter im großen Empfangssaal warf er Armschienen und Brustpanzer im Vorübergehen achtlos auf den weißen Thron. Dass es hier nicht, wie üblich, von Parlamentären, Gratulanten und Scriptoren wimmelte, die ihn buckelnd willkommen zurück hießen, konnte Gutes oder Schlechtes bedeuten. »Entweder meine werte Gemahlin hat vorausschauend gehandelt, oder aber dieser verfluchte Pérò hat es gewagt, ...« Er schlüpfte schnell in ein paar bequeme Pantoffeln und schritt eilig weiter durch die Tür in den Flügel der Privatgemächer.
Im großen Wohnzimmer war nichts zu hören, das Licht gedimmt. Mit leicht erhöhtem Puls hängte er den Waffengürtel an einen Haken neben der nächsten Tür.
Im kleinen Salon war es ebenfalls still wie ein Grab – und fast genauso kühl. Am Kamin versetzte er die schwache Sonnenfeuerkugel in eine leichte Drehung. Augenblicklich wurde der Raum in angenehm oranges, wärmendes Licht getaucht. Im Schattentanz des Feuerscheins erkannte er sofort die nur angelehnten Türen zum kleinen und großen Schlafzimmer.
Dann hörte er eine Stimme. Er hielt die Luft an, wollte am liebsten auch seinem Herzschlag befehlen, kurz auszusetzen, damit er besser hören konnte. Hören, wessen Stimme dort säuselte und ob es nur die eine war.
Er entspannte sich schnell wieder.
»Verdammt nochmal, was bist du für ein Feigling. Grinsend in der fremden Schlacht, zaudernd im eigenen Gemach.«
Vorsichtig schob er die Tür weiter auf und betrat leise das neu hergerichtete Kinderzimmer. Jetzt wusste er auch, was ihm an der Stimme im ersten Moment so unbekannt vorkam. Still lauschte er, an den Türrahmen gelehnt, dem lieblichen Gesang.
* * *
»Guten Abend, gut' Nacht,
mit Stäubchen bedacht,
mit Kernlein besteckt,
schlüpft unter die Deck.
Morgen früh, Shiva will,
werd' ihr wieder geweckt,
morgen früh, Shiva will,
werd' ihr wieder geweckt.
Guten Abend, gut' Nacht,
von Wandrern bewacht,
die zeigen im Traum
eure Säulen im Raum.
Schlaft nun selig und süß,
schaut im Traum's Paradies.
Schlaft nun selig und süß,
schaut im Traum's Paradies ...«
Aletheia seufzte schwermütig, als sie das Lied zu Ende gesungen hatte. Erschöpft saß sie zwischen den beiden Wiegen auf dem Boden und streichelte den Babys liebevoll über ihre rosa Wangen. Doch die Kleinen strampelten noch immer voller Energie. Ihre wachen Augen bestaunten neugierig, aufgeregt jedes noch so kleine Ding in ihrer Umwelt, als suchten sie schon jetzt die Antworten, auf Fragen, die sich ihre kleinen Köpfchen doch noch gar nicht stellen sollten.
Und schon zog eines der beiden schon wieder diese unfaire kleine Schippe, die Aletheia schon seit Stunden langsam aber sicher das Herz in bittersüßes Pulver zermahlte.
»Och, nicht schon wieder, Süße. Mama kennt langsam keine Liedchen mehr. Was soll ich denn ...« Mit einem Mal verstummte das anfängliche Quengeln. Beide Augenpaare starrten nur noch leuchtend über die verzweifelnde Sängerin hinweg. »Jetzt wollt ihr mich aber ärgern. Wenn ich das dem Papa er... huch!« Ein metallisches Klicken über ihr ließ sie erschrecken.
»Oh, verzeih mir, Theia. Ich wollte deine lieblich ketzerischen Lieder ...« Weiter kam er nicht, denn seine Gefährtin sprang sofort auf und fiel ihm um den Hals.
»Endlich. Endlich bist du wieder da.« Auf den Zehenspitzen zog sie sich zu ihm empor und ihn zu sich hinunter. Stürmisch bedeckte sie seine Wangen mit allen in Gedanken angesammelten Küssen. »Du ... Ich ... Wir ...« Sie begann zu weinen und ersetzte jedes ihrer feststeckenden Worte lieber durch einen weiteren Kuss.
Der letzte raubte dem Mann fast die Luft zum Atmen. Bevor er zu ersticken drohte, drückte er sie sanft aber bestimmt an den Schultern etwas auf Abstand. »Ich habe dich auch vermisst, Liebste. Aber ... willst du uns nicht lieber einander vorstellen?«
»Oh, verzeih. Natürlich.« Sie kippte von den Zehen wieder auf die Fersen und wischte sich mit dem Ärmel des Morgenmantels erstmal die Tränen von den Wangen. Dann legte sie ihm einen Arm um die Hüfte und nahm ihn mit sich wieder zu den Bettchen seiner beiden erst wenige Wochen alten Töchter.
»Das hier ist Lyîrah.« Das kleine Mädchen in der rechten Wiege entschied spontan, sich das dünne Deckchen über das Gesicht zu ziehen, als Táns Schatten sich über sie erstreckte.
»Und das hier drüben ist Lúcîvà«, sprach Aletheia weiter, während sie das Deckchen ihrer Schwester wieder gewissenhaft am unteren Fußende der Wiege festmachte. Das Mädchen im linken Bettchen begann unterdessen in weltmeisterlichen Schwimmbewegungen loszustrampeln. Hätte man sie auf die Füßchen gestellt, wäre sie vermutlich wild auf der Stelle rumgehüpft. Tán streckte schon die Hand nach ihr aus, als Aletheia ihn an selbiger abrupt zurückhielt. »Bevor du ... Ich muss dir noch etwas erzählen ... Ich ... Ich konnte es doch nicht in die Nachricht schreiben. Bitte ... Sie haben ...«
Tán hörte schon gar nicht mehr zu. Sein Blick verlor sich bereits in den smaragdgrünen Äuglein, die ihn da groß und herausfordernd anstarrten. Aletheia machte keinen Mucks mehr. Angespannt hielt sie sich beide Hände vor den Mund und beobachtete selbst mit großen Augen, wie ihr Gefährte wohl reagieren würde. Dieser beugte sich neben dem Bettchen auf ein Knie herunter und strich seiner Tochter über die Wange. »Ist schon gut, Kleines. Mit ein paar Zellen bekommen wir die schon hübsch blau, wie die aller anderen.« Klein-Luci packte mit einer Hand neugierig den Zeigefinger von Táns Aurelitan-Kampfhandschuh und versuchte auch sofort energisch, diesen zu verspeisen. Papa grinste und befreite sich mit der anderen Hand, die nun ihr kleines Ärmchen festhielt. Luci war damit nicht einverstanden und zog als Ersatz ihren anderen Arm unter der Decke hervor – doch sie griff ins Leere. Tán ließ die Kleine sofort los und stand wieder. Sein Blick galt Aletheia, die ihr Gesicht nun vollständig in den Händen vergrub.
»Es tut mir leid«, flüsterte sie mit flehender Stimme.
Sofort galt Táns Interesse wieder dem ersten Bettchen. Lyîrah blinzelte ihn mit halb geschlossenen Augen an. Mit einer schnellen Handbewegung stahl er dem Mädchen ihre seidene Versteckmöglichkeit – und ließ die Decke im nächsten Moment lautlos zu Boden fallen. Seine Aufmerksamkeit sprang wild zwischen ihren Augen hin und her.
»Es tut mir so leid«, wimmerte Aletheia nur noch. Und die kuscheldeckenberaubte Lyîrah stimmte sogleich mit ein, was Aletheia wieder zum Weinen brachte und Baby Ly dann ebenfalls.
Táns Kopf explodierte fast vor Fragen. »Schweig!«, herrschte er seine Frau strenger als gewollt an. Nun nahm er auch Baby Luci ihr Deckchen weg und sein Blick wanderte von einem kleinen, nackten Würmchen zum anderen und zurück. »Was hast du vorhin gesungen?!«
Aletheia schluchzte: »Dass ... dass sie endlich ... schlafen sollen?«
»Nein, über Kerne und Staub!«
»Dass ... dass beide Mädchen einen starken Kern haben. Das habe ich gespürt. Ganz sicher.«
Táns Stirn legte sich in tiefe Falten und er starrte abwechselnd die kleinen blassroten Muttermale unter der jeweiligen Brust beider Kinder an. »Das kann nicht sein!« Er hob den Handschuh und ließ die langen Klingen der Finger zu einer einzigen verschmelzen. Als er sich Lucis Bett näherte, verstummten die Mädchen.
Aletheia warf sich schützend über die kleine Lúcîvà. »Bitte nicht! Gib ihnen eine Chance! Die Missbildungen können wir doch ...«
Ihr Mann hielt ihr die Klingenspitze unter das Kinn und brachte sie wieder auf Abstand zu ihrer Tochter. »Missbildungen ... sagst du. Das sehe ich nicht so. Keine Angst, ich will bloß etwas überprüfen.« Die Klinge verließ Aletheias Hals und richtete sich auf Lucis Muttermal. Sanft stach er ihr einen winzigen, grauen Blutstropfen zum Vorschein. Hinter ihm begann Lyîrah fürchterlich zu schreien. Er drehte sich zu ihr und wiederholte die Prozedur. Kaum hatte er Lys Muttermal berührt, begann Luci, laut zu weinen. Aletheia war verwirrt, Tán lächelte. »Schau nicht so ungläubig, Theia.« Er hielt ihr die zwei vermischten Blutstropfen vor die Nase. »Es ist beinahe wie bei dir und deiner Schwester damals. Wie Prometheus euch geschaffen hat.«
»Mein Vater hat, mit uns, zwei kleine, künstliche Kerne erzeugt. Meinst du das?«
»Nenn ihn nicht deinen Vater! Ihr wart sein Experiment! So wie diese beiden hier meines ... unseres sind!
»Aber ... was meinst du mit ›beinahe‹?«
»Das werde ich dir zeigen.« Er ließ die Klinge wieder verschwinden und hob die weinende Ly aus ihrer Wiege. Als er sie zu ihrer Schwester legte, hörten beide wieder auf zu schreien, drehten sich zueinander auf die Seiten und lächelten sich an. Die beiden Muttermale berührten einander und Aletheia erkannte die blasse, grinsende Totenschädelform.
Tán zog sich bedächtig den Handschuh aus. Zum Vorschein kamen fünf schwarze Klauen, die sieben finster glänzende Ringe aus Vitan – dem Metall der Dra'ák – trugen.
»Das Erbe ...«, hauchte Aletheia mit weiten Augen. »Ich dachte, ... das wäre bloß ... bloß eine ...«
»Legende?«, schmunzelte Tán und glitt mit den Ringen über die Rücken der Mädchen. »So wie Prometheus' Mäandermeer? Oder die Nemesis Neko? Die Kernstelen? Die Wanderer? Schatz, nichts davon ist Legende. Und den Beweis dafür hast du geboren. Der Alte hatte tatsächlich Recht. Komm her zu mir. Sieh selbst.«
Er nahm die Finger seiner Frau zwischen die seinen, sodass sie das schwarze Metall an ihnen spürte. Zusammen streichelten sie über die beiden schmalen Rücken; das narbenähnliche Gewebe zwischen ihren Wirbelsäulen und den Schulterblättern. Eines wie ein dunkles Licht, das andre nur ein heller Schatten.
Die Ringe reagierten mit heftigen Schüben aus Hitze und Vibrationen. Beide konnten die Kraft in den kleinen Wesen fühlen. Lúcîvàs unbändige Neugier, aber auch den Zweifel, mit dem sie ihre Eltern ansah. Eine innere Schönheit, aber auch den Willen zu Zerstörung und Jähzorn. Mut und Übermut. Den Schlüssel zur Wahrheit.
In Lyîrah kämpfte die Angst gegen den Willen, zu behüten. Der Wunsch nach Harmonie, mit dem sie gerade nur Augen für ihr Schwesterchen hatte. Aber auch eine Wachsamkeit; ein Gespür für Gleichgewicht. Der Schlüssel zu Licht und Schatten.
Aletheia zog ihre Hand erschrocken weg, als sie noch etwas spürte: Wie die Ringe sich verflüssigten, verformten und wie kleine Fäden in Táns Hand eindrangen – und sich bereits nach den kleinen Körpern streckten. »Das sind keine experimentellen kleinen Kerne! Was hast du getan?«
Tán zwang die beiden Mädchen, friedlich zusammen einzuschlafen und deckte sie liebevoll mit beiden Tüchern wieder zu. »Das, meine Liebste, sind Gaya«, er zupfte Ly noch etwas die Decke zurecht, »und meine ... Sedna.« Er beugte sich noch einmal vorsichtig zu Luci herab und gab ihr einen langen Kuss auf die Stirn. Dann legte er seiner sprachlosen Frau den Arm um die Schulter und führte sie zurück in den kleinen Salon.
* * *
Über die schallende Ohrfeige musste Tán nur lächeln. Er setzte sich in den großen Herrensessel und genehmigte sich einen Schluck Rotwein, während Aletheia versuchte, möglichst leise wütend zu sein.
»Du ... du hast, ohne mein Wissen, einfach zwei Ur-Kerne in mich gepflanzt?! Du hättest mich töten können! Weißt du, was sowas anrichten kann?! Dein Experiment hat also funktioniert. Hättest du mir das nicht sagen können?! Du bist so ein riesiges ...«
»Du kanntest den Deal doch.« Gleichmütig hielt er ihr ein zweites Glas Wein entgegen. Aletheia setzte sich auf die Couch und nahm einen kräftigen Schluck, während Tán weiterredete.
»Dank eines alten Freundes funktioniert meine Technologie besser als erwartet. Das Ergebnis konnte ich nicht vorhersehen. Aber du warst nie in Gefahr, meine Hübsche. Deine Schwester hätte die Prozedur niemals überlebt. Du solltest immer noch dankbar sein, das ich dich ausgewählt habe. Und du hast sie aus freien Stücken getötet, damit ich dich von Prometheus befreien konnte. Vergiss das nicht. Oder gefällt dir dein zweites Leben als Lux nicht?«
Schweigen war ihre Antwort.
»Ich finde, dir steht dieser Körper ausgezeichnet«, zwinkerte er ihr zu.
Sie seufzte. »Meine Schwester war schwach. Das stimmt.« Sie hielt ihm das Glas hin und er füllte es großzügig nach. »Also hast du, was du wolltest? Sedna? Lúcîvà?«
»Nein. Leider nicht. Das ist der Sedna-Kern. Nicht Sedna selbst. Und dass die Affinität so groß geworden ist, dass auch ein weiterer Kern hinzukommt, konnte ich nicht vorhersehen. Verzeih mir. Aber das eröffnet mir nun ganz neue Möglichkeiten. Mit beiden könnte es mir sogar möglich sein ...«
»Du vergisst etwas, mein Lieber.« Sie starrte in ihr halbleeres Glas. »Das Sententia Mortifera. Das Todesurteil. Selbst dir wird das Scriptorium keine Ausnahme gewähren.«
»Ich weiß.« Auch Tán starrte jetzt in sein Glas, das er vor der Brust schwenkte. »Ich habe mich noch nicht entschieden ...«
»Welchen der beiden Engel du für diesen dämlichen Rassen-reinhalte-Scheiß der Lux umbringen wirst? Oh doch, ich denke du hast es längst ...«
»Nein, verdammt! Keine von beiden soll sterben. Sie sind beide ...«
»Für deine Experimente zu wertvoll?«
Tán schwenkte still das Glas vor sich hin.
»Aber was willst du jetzt tun? Sie werden es bald fordern!«
»Mir wird schon was einfallen«, murmelte er. »Schau dir die beiden an! Die Lösung liegt gewiss nicht in der Entscheidung: Wer. Wenn die Priester sie so sehen, werden sie, egal, welche Entscheidung ich fälle, auch die andere ...«
»Und wie lange willst du darüber nachdenken? Sie könnten schon morgen kommen. Wir müssen zumindest irgendwie Zeit schinden, bis uns etwas ...«
»Zeit.« Tán sah wieder zu ihr auf und in ihr fragendes Gesicht. »Zeit«, wiederholte er noch einmal etwas lauter. Er stand auf, stellte das leere Glas auf den Tisch und verließ in Gedanken schweigend das Zimmer.
Die junge Dame blieb wortlos allein zurück. Sie stand noch einmal auf und sah nach den friedlich schlummernden Zwillingen. Ihr Herz wog schwer, bei dem Gedanken daran, was sie bloß tun sollte, wenn ihr Mann bis zum Tag der Entscheidung keine Lösung finden würde.
* * *
Zurück im Arbeitszimmer verschloss Tán die Tür, nahm die sieben Ringe ab und drapierte sie wie kleine schwarze Kronen auf einigen der dreizehn Hydrahäuptern der kleinen Statuette in der verborgenen Wandnische neben seinem Schreibtisch. Eine dicke Steintafel schob sich davor und verschmolz wieder Fugenlos mit dem Wandgemälde des shivanischen Schöpfungsaktes. Er streifte sich einen weißen Handschuh über die Klaue und setzte sich an den Tisch. Ein paar darin eingelassene Kristalle aktivierten verschiedene Hologramme und weitere Runen und dunkel-rosa Kristalle in Form kleiner Sanduhren. »Komm schon ...« Seine Fingerspitzen trommelten rastlos auf dem Holz.
Verschlüsselter Kommunikationskanal: Priorität Alpha hergestellt. Visuelle Übertragung eingeschränkt. Ziel bewegt sich in abweichendem chronometrischem System. Asynchronität beträgt Minus 42 Tage, zeigten ihm die Runen an, dann meldete sich eine krächzende Stimme:
»Ja? Wer wagt es, mich auf diesem Kanal zu stören? Und warum funktioniert dieser vermaledeite Bildschirm nicht?« Lautes Rascheln, dann ein paar dumpfe Schläge waren zu hören. »Hallo? Wer wagt es, mich hier auf diesem Kanal zu stören? Und ... warum funktioniert dieser ...«
»Alter Mann! Hier spricht General Tán, wer sonst?!«
»Oh, Thanatos, mein alter Freund. Was wird mir die Ehre verschaffen? Sind schon Glückwünsche angebracht? Oh, natürlich werden sie das sein, nicht wahr? Sie werden es. Glückwunsch.«
»Spar dir das, du alter Zyniker! Und nein, ich spreche von nun an nur noch als Tán zu dir. Mein alter Körper wurde zerstört. Und du wirst nicht erraten von ...«
»Miss Neko, nehme ich an. Und du wirst augenscheinlich die Kontrolle über die Vindicta verlieren. Wirst du sonst noch bei etwas versagen? Dafür kontaktierst du mich? Meine Zeit ist zu wertvoll für so etwas.«
»Ja. Du hast mir meine Sedna versprochen. Stattdessen sind es zwei ...«
»Ja, natürlich werden es zwei sein! Würdest du bei deiner kleinen Ausrottung in drei Tagen nicht versagt haben, würde ich in sechs Wochen auch glücklicher Doppel-Urgroßvater gewesen sein, du Narr. Ausgleichende Gerechtigkeit. Aber so ergeben auch die zwei Briefe hier einen Sinn. Erinnere mich nachher bitte nochmal daran, sie dir zu geben.«
»Du wusstest, dass das passieren kann? Warum ...«
»Du wirst also mein Upgrade deiner Affinitätstechnologie unterschätzt haben. Das bestürzt mich. Natürlich ist es Zeiteffizienter gewesen, alle vier Ur-Kerne auf einen Streich rematerialisieren zu lassen. Du wirst dir doch nicht etwa Sorgen um deine Brüterin machen?«
»Nein ... selbstverständlich nicht. Aber um die zwei Trägerinnen. Es gibt Komplikationen. Anscheinend sind die biologischen Körper instabil, scheinen verschiedene Erbanlagen zu polarisieren, abzustoßen. Andere wiederum bilden einen harmonischen Gleichklang. Und das Schlimmste: ...«
»Die Effekte treten auf beide verteilt auf. Ja, das wird zu erwarten gewesen sein. Ohne G-1- und S-1-Kern gibt es keinen schöpferischen Einfluss, der sie dauerhaft bindet. Aber wie der Zufall so will, werde ich ja bereits dafür gesorgt haben, dass mein spezieller, zwielichtiger Freund beide unwissend in deine Richtung geschickt haben wird. Gut zu wissen.«
»Mit der Vindicta? Mit der Mühle brauchen sie ewig. So viel Zeit zu Warten bleibt mir nicht. Das Sententia Mortifera. Wenn ich eine von beiden wieder auslöschen muss, verlieren wir noch mehr Zeit. Was sollen wir ...«
»Warum werde ich nur immer für uns beide mitgedacht haben müssen, Jungchen?! Wir werden folgendes gemacht haben: Ich habe einen weiteren Teil des Erbes gefunden. Ich lasse ihn dir zukommen. Gib ihn dem Scriptorium. Damit erkaufst du dir sechs, sieben Jahre ... ich meine, eine Ringwende Zeit. Das Stück kannst du dir später zurückholen. Bis dahin verschleierst du die Identität deiner beiden Bälger. Die kosmetischen Details dürftest du selbst hinbekommen. Unterdrücke ihre Fähigkeiten solange. Unterbinde ihre Kontakte zu Scriptoren, soweit wie möglich. Das Aviarium musst du wohl auch für beide umgehen, wenn es soweit ist. Lass dir was einfallen! Um die Viatoris können wir uns auch nicht mehr wie bisher kümmern. Du solltest sie nicht mehr töten. Sie werden schon bald einen weiteren Begleiter schicken, der Kontakt zu den Kernen aufnehmen wird. Für den werde ich dir einen neuen Prototyp geschickt haben, der seine Kommunikation unterdrücken sollte. Er muss leben bleiben! Wer weiß, auf was für Ideen die Herren jenseits des Zwielichts sonst kommen. In der Endphase steht jetzt einfach zu viel auf dem Spiel. Hast du verstanden?!«
»Das habe ich.«
»Gut! Wird es das gewesen sein?«
»Die Briefe.«
»Was für Briefe?«
»Von deinem ominösen Kontakt im Zwielicht?«
»Ach, ja. Herje. Moment. Ich hinterlege dir die Struktur. Remoduliere sie! Hast du sie bekommen?«
Tán hatte die sechs Wochen alte Übertragung längst in den Händen und las die Worte über den Siegeln:
~ Einzig der Ketzerin ~
~ smaragd ~
und
~ Einzig der Beschützerin ~
~ obsidian & marmor ~
»Hast du sie nun bekommen?«
Tán dachte angestrengt nach, bevor er schließlich antwortete. »Ist es nicht unklug, die Nachrichten des ersten Wächters einfach weiterzuleiten?«
»Nicht, wenn man bedenkt, dass uns das doch bis zu einem gewissen Grad in die Karten spielt. Vor Allem jetzt, wo wir darauf angewiesen sind, dass sich die Träger doch auf natürlichem Wege versammeln müssen. Nicht wahr?« Die alte Stimme fing an zu kichern und löste in Tán eine unheimliche Wut aus.
»Halte mich nicht für naiv, alter Mann! Ich werde meiner Lu... Sedna diesen Brief nicht übergeben. Bedenke: es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder es gelingt mir, beide Mädchen solange zu verbergen, bis die beiden anderen Kerne hier eintreffen, was vermutlich erst in etwa drei Ringwenden der Fall sein dürfte, wenn du mir nicht auch die Zeit stiehlst, dann wäre es überaus gefährlich, beide mit diesen Botschaften zu impfen und unnötig schwer, sie so lange von Dummheiten abzuhalten. Oder aber das Sententia Mortifera wird vorher unumgänglich vollstreckt werden müssen. Wenn es dazu käme, und wir beide Mädchen ... Kerne unter Kontrolle halten wollen, hätte ich nur die Möglichkeit, eine den Scriptoren zu übergeben. Meine Sedna werde ich diesem Viatoris-Hokus-Pokus nicht aussetzen! Sollte sie dann im Besitz dieses Wischs, oder nur der Kenntnis davon sein, werden die Priester von unserem kleinen Vorhaben schnell Wind bekommen. Und nicht auszudenken, was sie dann mit ihr ... mit dem Kern anstellen!« Wütend übergab er die Materie des Smaragd-Briefs wieder an den Absender.
»Nun gut. Ich werde eine andere Verwendung für ihn finden. Als Rückversicherung, könnte man sagen. So wie meine lebende Genesis-Kern-Probe, die ich mir, dank etwas liebevoller Unterstützung, sichern konnte. Sollte alles glatt gehen, brauchen wir auch den derzeitigen Träger nicht mehr und können uns ganz auf Objekt S-P-H-31 konzentrieren.«
»Und der fünfte Kern? Hast du genügend Zeit? Ich meine ... wirst du bis dahin genug Zeit haben?«
»Oh, mein Guter, er ahnt nichts. Ich bekomme seine Zeit Stück für Stück. Die Maschine läuft ja bereits. Der Prozess ist noch etwas fluktuierend, aber wir haben ja noch etwa zwanzig Jahre Reserve. Gute einundfünfzig Prozent sollten bis dahin machbar sein. Den Vindicta- und Thanatos-Körper-Vorfall werde ich augenscheinlich nicht mehr verhindert haben können. Die beiden kommen jeden Augenblick hier an. Ach, eines noch: Vermutlich werde ich den G-Kern-Träger auch bereits unterschätzt haben. Das soll schon was heißen. Also vermassele es nicht! So. Der Tee ist fertig. Du weißt, was zu tun ist. Belästige mich erst wieder, wenn du Fortschritte zu vermelden hast. – Arc, Ende.«
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